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Israelische Reise
In Israels Nachbarschaft drängen Islamisten an die Macht, im Landesinnern gerät die Gesellschaft ins Wanken. Der jüdische Staat sieht sich in einer neuen Welt: Bericht aus einem schwierigen Land.
Von Peter Haffner

Freunde, besorgt um den Ruf ihrer Heimat, hatten mich gewarnt. Doch der israelische Beamte, der mich vor dem Flug nach Tel Aviv befragte, ein schmächtiger Mann mit Krausbart, war nicht rüde. Ob ich meinen Koffer selber gepackt hätte, wer dabei gewesen, wo und wann das geschehen sei, wollte er wissen. «Hat Ihnen jemand etwas mitgegeben?», fragte er dann, setzte nach, weshalb er mich das wohl frage, und quittierte meine Antwort, es könnte eine Bombe sein, mit einem befriedigten «Richtig».

Israel ist ein bedrohtes Land. Bahnhöfe, Einkaufszentren und selbst manche Restaurants kann man nicht betreten ohne vorherige Inspektion mitgebrachter Taschen, und es gibt kaum einen Ort, wo man nicht junge Armeeangehörige sieht in ihren olivgrünen Uniformen, Männer mit umgehängten Uzis und Kippa, Frauen mit einer M 16, lackierten Fingernägeln und einem Plüschtier auf dem Rucksack.

Basel Square, Tel Aviv
«Niemand sollte hier leben», sagt Gershon Molad —
und kann doch nicht anders.

Mit seinem Rossschwanz und der englischen Mütze hat Gershon Molad etwas von einem Bohemien. Wir sitzen im Elkally an der Basel Square, benannt nach dem ersten Zionistenkongress von 1897 im schweizerischen Basel, und trinken Cappuccino. Es ist ein schöner Spätsommermorgen, das Sonnenlicht spielt in den Blättern, Mütter füttern ihre Säuglinge, und Molad, ein 63-jähriger klinischer Psychologe, zieht den Vorhang von der Idylle. Schildert, wie es ist, wenn die vier Ambulanzen der gegenüberliegenden Notfallstation losheulen, das Mobiltelefonnetz zusammenbricht, die Nachrichten Tote und Verletzte melden und drei Tage später alles vergessen ist. Ein Bombenanschlag, einer von vielen, jederzeit kann es wieder passieren.

Molads Eltern waren 1934 aus Ostpolen nach Palästina eingewandert. Kennen gelernt hatten sie sich in einem Kibbuz und ihre Eltern, Grosseltern und Geschwister herübergeholt, bevor es zu spät war. Der Holocaust hat seine Familie nicht betroffen, aber als Achtjähriger hat Gershon Bücher darüber gelesen, und der Tag, an dem ihn sein Vater aufgeregt anrief, kommt ihm vor wie gestern. Eichmann war geschnappt worden. Der Prozess wurde am Radio übertragen, Lautsprecher schallten in den Strassen, ein «Tsunami der Erinnerung» ging durch das Land.

Israel gäbe es nicht ohne den Holocaust. Der Traum der Zionisten, einen Staat für die Juden im Land zu schaffen, aus dem sie vor zweitausend Jahren von den Römern vetrieben worden waren, wurde mit dem Palästina-Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 und der im Jahr darauf erfolgten Gründung Israels Wirklichkeit. Nach den zwei Kriegen von 1948/49 und 1967, die beide seine Nachbarländer begannen und die mit Gebietseroberungen Israels endeten, ist die junge Nation heute die stärkste — und die einzig nukleare — Militärmacht im Nahen Osten.

Die Bedrohung ist geblieben. Sie kommt nicht nur von Staaten wie dem Iran, dessen Präsident Ahmadinejad Israel von der Landkarte getilgt sehen möchte, oder vom arabischen Frühling, der die Sicherheitslage des jüdischen Staates verschlechtert hat. Sie ist Teil des Alltags; der Städter, die mit Attentaten rechnen müssen, der Siedler, die in den besetzten Gebieten leben, der Eltern, deren Söhne und Töchter im Armeedienst sind. Dieser Stress, seit Jahrzehnten akkumuliert, sei lebensbedrohend, sagt Molad. Er selber habe jedes Mal vor der Rückkehr von einer Fachkonferenz im Ausland eine Krise, frage sich, weshalb er diesen Irrsinn mitmache. «Niemand sollte hier leben», meint er, und kann doch nicht anders.

Am Abend zuvor hatte ich einen Schriftsteller getroffen, der es nicht so ernst sieht. Assaf Gavron ist 42, ein Multitalent mit einem Hang zur Schelmerei, der das Computerspiel «Peacemaker» entworfen und Israels «Nationale Fussballmannschaft der Dichter und Schreiber» gegründet hat. Bekannt geworden ist er mit dem Roman «Ein schönes Attentat», einer schwarzen Komödie über Selbstmordanschläge.

«Jahrelang wurde uns gesagt, das einzige Problem sei die Sicherheit, der Konflikt mit den Palästinensern, die andauernde Bedrohung unserer Existenz», sagt Gavron, der an den jüngsten Massenkundgebungen teilgenommen hat und mit seiner Band The Mouth and Foot in der Zeltstadt am Rothschild Boulevard aufgetreten ist. «Viele, die zum Schweigen gebracht wurden, haben nun ihre Stimme wiedergefunden», meint er, und dass es wieder Hoffnung gebe, einen Sinn für Gemeinschaft in einer Sache, die für einmal nichts mit Krieg und Gewalt zu tun habe, dem Thema, das die Nation spaltet.

Gavron redet von der «Revolution vom 14. Juli», im Jargon kurz «J14». Was an jenem heissen Sommertag begann, die Proteste gegen die Preise für Hüttenkäse und Wohnraum, die Zeltstädte, die aus dem Boden schossen, die Demonstrationen, an denen Hunderttausende teilnahmen, war ein Novum für Israel. Jung und Alt, Studenten und Fabrikarbeiter waren vereint, doch die steigenden Lebenshaltungskosten, die mangelnde soziale Gerechtigkeit oder der Niedergang des Mittelstandes vermögen die Wucht der Bewegung nicht zu erklären, die eine 25-jährige gewitzte Videocutterin namens Daphni Leef vom Zaun riss, als sie ein Zelt in Tel Avivs Luxusallee aufstellte, nachdem sie aus ihrer Wohnung geworfen worden war, und ihre Freunde via Facebook einlud mitzumachen. «Es ist die Wiederkehr des Kibbuz», sagt Gershon Molad, der sich mit Gavron einig ist, dass die Bedeutung der Bewegung weit über ihren Anlass hinausreicht.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Israels Bedrohungsmentalität nicht so bald verschwinden wird, wie sich die Jungen erhoffen. Das Land ist die Frucht der jahrhundertelangen Erfahrung eines Volkes im Exil, in Ländern, wo man es selten wollte, oft verfolgte und schliesslich vollständig zu massakrieren suchte. Die Juden können die Welt nicht sehen, wie die Welt sich selber sieht. Aussenstehenden fällt es leichter, sich in die betrogenen und ihres Bodens beraubten Palästinenser hineinzufühlen; jeder weiss, wie das ist, wenn einem etwas weggenommen wird.

Wenige wissen, was es heisst, sich seines Lebens nie sicher sein zu können.

In der Zeltstadt auf dem Rothschild Boulevard, Tel Aviv
Warum die Demonstrationen das
grösste soziale Ereignis in der Geschichte Israels sind

Tel Aviv lässt einen vergessen, in welchem Brennpunkt der Zeitgeschichte man ist. An der Dizengoff Avenue reiht sich ein Schönheitssalon an den anderen, wo schlanke Frauen sich rüsten für die Strandpromenade mit ihren Bars und Restaurants, deren Lichter sich in der Schwärze des leise ans Ufer lappenden Meeres spiegeln. Gläser klingen, die Gesichter sind jung, die Nacht ist voller Versprechen.

Unlängst gab eine Gruppe gut situierter Israelinnen zu reden, die illegal Palästinenserinnen aus dem Westjordanland über die Grenze brachten, um mit ihnen im für sie unerreichbaren Meer zu schwimmen. Die Polizei schritt ein, und We Will Not Obey, wie die Gruppe heisst, rückte ein Inserat in die Presse, worin sie statuierte, sie anerkenne ein Gesetz nicht, das Israelis erlaubt, sich zwischen Mittelmeer und Jordan frei zu bewegen, dies Palästinensern aber untersagt.

Von hier bis nach Bnei Brak sind es nur ein paar Busstationen, doch es ist eine Fahrt in ein anderes Land, ein vergangenes Jahrhundert. Schmuddelige Läden mit verstaubten Schaufenstern säumen die Gehsteige, auf denen Orthodoxe in schwarzen Anzügen mit schwarzen Hüten schwarze Kinderwagen vor sich her schieben. Die Röcke der Frauen sind lang und grau, die Gesichter von blasser Frische; es ist Freitag, und ein Reisebus nach dem anderen parkt an der Rabbi-Akiva-Strasse und entlässt Besucher mit schwarzen Rollkoffern. Wer hier, hatte man mich gewarnt, am Sabbat mit dem Velo herumfährt, riskiert es, mit Tomaten, Eiern oder gar Steinen beworfen zu werden.

Mit seinem breiten, von stattlichen Bäumen gesäumten Mittelstreifen lädt Tel Avivs Rothschild Boulevard zum Flanieren. Die Zeltstadt, die darauf entstand, war tagsüber verwaist, aber nun waren die Bewohner zurück und machten es sich um die ausgelegten Teppiche bequem. Ich gesellte mich zu einem Mann und einer Frau, die auf einem Sofa sassen und mir gleich versicherten, sie seien kein Paar. Sitbon Meyer, ein schlanker Mittfünfziger mit Stoppelbart, war aus Paris gekommen und klagte, dass er von der israelischen Regierung kein Arbeitslosengeld bekomme. Ilana Yedid, in Shorts und geblumter Bluse, hatte ihre Dreizimmerwohnung aufgeben müssen, weil sie bei einer Miete von 2500 Schekel und einem Monatslohn von 4000 nicht über die Runden kam. Sie war Krankenschwester gewesen, hatte den Beruf als alleinstehende Mutter der Schichtarbeit wegen aufgeben müssen und verdiente sich den Lebensunterhalt nun mit Putzen, Kochen und sonstigen Jobs.

Ihr Sohn Maor, ein kräftiger Vierzehnjähriger, strahlte auf die Frage, wie es ihm gefalle, seit drei Wochen mitten in der Stadt in einem Zelt zu wohnen. Er war es so wenig leid wie sein kleiner Hund, der keck unter dem Arm hervorguckte. Ilana, in Israel geboren als Tochter eines Syrers und einer Libyerin, schaute die beiden an und lächelte. «Ich kann das Leben nicht geniessen», sagte sie dann.

Gutverdienende mit entspannten Gesichtern stiegen aus ihrem Mercedes, Lexus oder BMW, die Restaurants an der Shenkin-Strasse füllten sich, und es würde nicht auffallen, wäre es nicht Israel, wo die soziale Kluft plötzlich als Skandal wahrgenommen wird. In Kefar Shemaryahu, einer Gemeinde im Norden der Stadt, die zu den reichsten des Landes gehört, hat man das schon lange sehen können. Im Volksmund heisst die Gegend «Beverly Hills», doch der Übername trifft nicht. Es sind keine protzigen Mansions, die dastehen, sondern schlichte weisse Villen, die ästhetisch auf das Bauhaus und funktional auf den Bunker referieren; ein verschwiegener Luxus, der genossen und nicht gezeigt werden will.

Israels Gesellschaft lebt längst nicht mehr dem Gleichheitsideal nach, jener Variante des realexistierenden Sozialismus, die auf Freiwilligkeit baut. Benjamin «Bibi» Netanyahu hat mit seinem wirtschaftlichen Neoliberalismus das Land und ein paar Mitbürger reich gemacht, doch nun ist, wie in den USA und Europa, der Mittelstand disqualifiziert im Marathon zum materiellen Glück. Ein Dutzend Familien, die «Tycoons», beherrschen den Markt. Das Wirtschaftsblatt «The Marker» hat Monopole und Kartelle aufgedeckt, die dem Konsumenten überhöhte Preise bescheren für Miete, Nahrungsmittel und Benzin. Steuererleichterungen für Reiche wurden ausgeglichen mit indirekten Steuern, welche die Minderbemittelten stärker treffen.

Die Kinder, ahnt man auch in Israel, werden es erstmals nicht besser haben als die eigene Generation, die schon die Früchte ihrer Arbeit faulen sieht. Doch die gegen hundert Zeltstädte im ganzen Land mit Shows, Diskussionen und Lesungen, die Demonstrationen, an denen fast zehn Prozent der Landesbevölkerung teilnahmen, zeugen von einem Dammbruch grösseren Ausmasses. Zu Unrecht ist er «Israels 1968» genannt worden. Die Revolte ist weder ein Generationenkonflikt noch ein Aufstand gegen althergebrachte Sitten und Werte. Gemäss einer Meinungsumfrage der liberalen Zeitung «Haaretz» wurde sie von Anbeginn von 87 Prozent der Bevölkerung unterstützt, und über die Hälfte der Demonstranten, so eine Untersuchung, zählt einkommensmässig zum oberen Drittel der Gesellschaft. Es ist ein «Aufstand der Mitte», vorangetrieben von Studenten und Freiberuflern.

Fragt man Beteiligte, was die Bewegung für sie bedeute, fällt ein Wort, für das es keine treffende deutsche Übersetzung gibt: «empowerment». Sein Leben selber in die Hand zu nehmen, das Gefühl der Ohnmacht loszuwerden, das sei das Schlüsselerlebnis, bekam ich immer wieder zu hören. Die Jungen haben eine Lethargie der Bürger überwunden, deren diese insgeheim selber überdrüssig waren. «Für die meisten Israelis ist Demonstrieren etwas Neues», sagt Sharon Luzon, ein Abgeordneter des Stadtparlamentes von Tel Aviv, der die Bewegung «das grösste soziale Ereignis der Geschichte Israels» nennt.

Für Maya Wallenstein, eine 28-jährige Anthropologiestudentin, ist es die Chance. Fällt ihr Name, heisst es gleich, «Ah, die Feministin!». Der Singular sagt viel über den Charakter der Bewegung und die Gesellschaft Israels, und Maya, deren schwarze Hornbrille ihr mädchenhaftes Aussehen noch unterstreicht, fühlt sich denn auch als Vorkämpferin ohne Nachhut. Ihr Vater sei religiös, die Mutter nicht, erzählt sie, und der Streit über die Rollenverteilung, der schliesslich zur Scheidung führte, habe ihr Interesse an Frauenfragen geweckt. Maya entkräftet meine Annahme, die Frauen einer Gesellschaft, die sie zum Armeedienst verpflichtet und im Kibbuz ein Modell kommunaler Sozialisation erprobt hat, seien emanzipierter als ihre westlichen Geschlechtsgenossinnen. Im Kibbuz, meint sie, hätten sie die Gemeinschaftsküche und die Kinderkrippe besorgt, in der Armee noch bis vor kurzem als Sekretärinnen gedient und Kaffee gemacht. Erst zögerlich werde über Themen wie häusliche Gewalt oder sexuelle Belästigung gesprochen. Gemäss einer Studie von Avigail Moor betrachten sechzig Prozent der israelischen Männer und vierzig Prozent der Frauen «erzwungenen Sex mit einer Bekanntschaft» nicht als Vergewaltigung. «Ich bin in der Minderheit und werde respektiert», sagt Maya über ihre Rolle, «doch gesprochen darüber wird nicht.»

Ein Restaurant, Jerusalem
Was hat die Palästina-Frage für wirtschaftliche Auswirkungen?
Und was ist mit der Linken?

Die Linke, deren Domäne die Bewegung eigentlich sein sollte, weiss sie nicht zu nutzen. Warum das so ist, wollte ich von Assaf Sharon und Avner Inbar wissen, zwei jungen Philosophen, die für die «New York Review of Books» schreiben und Mitbegründer von Solidarity sind, einer Organisation zur Verbesserung der jüdisch-arabischen Beziehungen. Es war Sabbat, und fast alle Restaurants in Jerusalem hatten geschlossen bis auf eines in der Nähe meines Hotels, das übervoll war mit Jungvolk, das ass, trank und es sich gut gehen liess.

«Links zu sein, ist irgendwie obszön geworden», sagen die beiden. Traditionell Israels «Friedenslager», sei die Linke nicht bereit, den totalen Misserfolg all ihrer Bemühungen seit den Osloer Abkommen einzugestehen. Rückwärtsgewandt und unpopulär, drohe sie nun die Chance zu verpassen, die Kapitalismuskritik neu zu legitimieren. Die Voraussetzungen wären gut, hat doch, anders als in europäischen Ländern, kaum jemand für die gegenwärtige Misere nach einem Sündenbock wie etwa Immigranten gesucht. «Wir als Gesellschaft haben ein Problem, das ist der Tenor», sagen Assaf und Avner.

Die Bewegung vom 14. Juli hat peinlich darauf geachtet, Solidarität herzustellen. Allen Fragen, welche die Front zwischen Nationalen und Liberalen markieren, ist sie ausgewichen wie etwa der, was die wirtschaftliche Lage mit den Milliardensummen zu tun hat, die in die besetzten Gebiete fliessen zur Sicherung der Siedlungen oder an die nicht zum Armeedienst verpflichteten und von der Sozialhilfe lebenden Orthodoxen mit ihren kinderreichen Familien.

Wie viel das genau ist, kann niemand sagen; Israels Budget ist ein Buch mit sieben Siegeln, und Subventionen für die Siedlungen sind versteckt in Ausgaben für das Gesundheitswesen, für Ausbildung und Verkehr. Der Löwenanteil, fast ein Drittel der Staatsausgaben, entfällt auf die Armee. All dies war immer ein Thema der Linken, die der Bewegung folgerichtig Naivität vorwirft, wenn sie über Israels Wirtschaft und Gesellschaft redet und dabei die Palästina-Frage ausklammert.

Institute for National Strategic Studies, Tel Aviv
Der ehemalige Geheimdienstchef erkennt sein Land nicht mehr wieder.

Er sei, schrieb General Shlomo Gazit in «Haaretz», ein «stolzer jüdischer Terrorist». Mit seinem sorgfältig nach hinten gekämmten Haar, dem kurzärmligen Kakihemd und der unsentimentalen Art könnte man den ehemaligen Geheimdienstchef der israelischen Armee für einen militärischen Falken halten. Doch der pensionierte General ist Mitglied der Menschenrechtsorganisation Yesh Din, und es war der Falke Avigdor Lieberman, Israels Aussenminister, der diese eine «terroristische Vereinigung» nannte wegen ihrer Rechtshilfe für Palästinenser in den besetzten Gebieten. «Als die Briten, gegen deren Mandatsherrschaft ich als 15-Jähriger in der Haganah kämpfte, mich als Terroristen bezeichneten, fühlte ich mich geehrt», sagt Gazit. «Heute, fast siebzig Jahre später, ist es mir wieder eine Ehre, wenn Aussenminister Lieberman mich so tituliert.»

Gazits Büro im Institute for National Strategic Studies der Tel Aviv University ist so nüchtern wie der Mann selber. Geboren in Istanbul als Sohn ukrainischer Juden, hat Gazit über drei Jahrzehnte Armeedienst hinter sich. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 war er vom Verteidigungsminister Moshe Dayan mit der Aufsicht über die neu eroberten Gebiete beauftragt worden. Am 9. Juni, 24 Stunden vor Ende der Kriegshandlungen, hatte er ein Memorandum für die «Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates im Westjordanland und dem Gazastreifen» verfasst. Weder die militärische noch die zivile Führungsspitze reagierte. Noch heute steht Gazit zu seinem Vorschlag, obschon — oder gerade weil — er Israel für gefährdeter hält denn je. Sein Engagement bei Yesh Din sei ein Versuch, das Land davor zu retten, ein Apartheid-Regime zu werden, sagt er und befürchtet, bei einer Fortsetzung der Okkupation werde ein jüdisches und demokratisches Israel nicht überleben können.

Umgeben von Nachbarländern, die seine Zerstörung zum Ziel hatten, war es Israels Strategie, den Krieg vom eigenen Territorium fernzuhalten und mit einem Gegenschlag in Feindesland zu tragen. Das hat bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 funktioniert. Unkonventionelle Kriegführung und ein bald nuklearer Iran haben die Lage geändert. «Selbst wenn die Islamische Republik nicht auf Israels Vernichtung aus ist, wird sie mit der Bombe ihre Macht in der Region ausspielen können», sagt Gazit.

Wir reden vom arabischen Frühling, eine Bezeichnung, die Gazit nie gebrauchen würde, denn bis die arabische Welt stabil und demokratisch sei, meint er, werde es länger dauern als bis zur Normalisierung Frankreichs nach der Revolution von 1789. All die netten Menschen, die man auf dem Tahrir-Platz sehe, seien im Unterschied zu den Islamisten nicht organisiert. Er beurteilt die Situation für Israel als «sehr gefährlich» und verweist auf die bisher stabilen Beziehungen zu den Nachbarländern. «Unter Mubarak blieb es in Ägypten ruhig, selbst als hier die Intifada losging», sagt er. «Damit können wir nicht mehr rechnen, wenn nun etwas los ist mit den Palästinensern.»

Gazit ist ein Pragmatiker, und das ist im Israel der Netanyahu-Regierung revolutionär. Er hätte es vorgezogen, wenn man sich mit dem Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas — den er persönlich kennt und wie die Araber Abu Mazen nennt — zusammengesetzt hätte, um gemeinsam einen Vorschlag zur Staatsgründung vor die Vereinten Nationen zu bringen. Auch würde er ohne Zögern mit der Hamas verhandeln, und mehr noch als einen Aufruhr der Palästinenser fürchtet er die Überreaktion der eigenen Seite. «Wir haben genug Idioten, die davon reden, und das kann zu einer Eskalation führen, die jede Lösung verunmöglicht», meint er.

Ich frage General Gazit, ob er sein Land, für dessen Unabhängigkeit er gekämpft und das er in mehreren Kriegen verteidigt hat, heute noch wiedererkennt. «Nein, definitiv nicht», sagt er und erzählt von einem Vortrag des Orientalisten Bernard Lewis von 1987, in dem dieser meinte, zwei Wunder könne er nicht verstehen: erstens, weshalb die Palästinenser, die sich bisher gegen jede Fremdherrschaft gewehrt hätten, dies im Falle Israels nicht täten, und zweitens, wie es Israel schaffe, eine Demokratie zu sein, wo doch alles dagegen spreche — Krieg, Feinde und eine Bevölkerung, die zumeist aus Ländern stamme, die nie Demokratien waren. «Vier Wochen nach LewisÂ’ Vortrag ging die Intifada los», sagt Gazit. «Meine Sorge ist, das zweite Wunder, Israels Demokratie, könnte sich nun ebenso in Luft auflösen.» Er redet von der extremen Rechten, den ideologisch Verblendeten, von der Unfähigkeit, mit den Siedlern im Westjordanland klarzukommen, vom drohenden Bürgerkrieg, wenn deren Dörfer mit Gewalt geräumt werden müssten. Und von seiner eigenen Domäne, der Armee. «Zu meiner Zeit gab es fast keinen hochrangigen Offizier, der religiös war», sagt er. «Heute sind es vierzig Prozent der Absolventen von Israels Offiziersschulen.»

«Was ich liebe an meinem Land?», ruft er fast erschrocken aus auf meine Frage, und bleibt für eine Weile stumm. Was dann kommt, kommt von Herzen. Er redet von der Frucht mit harter Schale und weichem Kern, davon, wie grob seine Landsleute seien, wie schlecht ihre Manieren, aber wie sie alle mit keinem der wunderbaren Orte im Ausland tauschen würden. «Wir kümmern uns wirklich umeinander», sagt er und spricht vom Gemeinschaftsgefühl, als möchte er den Glauben daran nicht aufgeben.

 

In den Köpfen zweier Akademiker, Tel Aviv
Unerwiderte Annäherungsversuche

Sprüche wie «Walk like an Egyptian!» an den Demonstrationen sind als Sensation vermerkt worden. Dass Israelis aufrufen, von Arabern zu lernen, ist unerhört. Viele hat es verblüfft, dass Araber ihr Leben selber in die Hand nehmen, Courage zeigen und sich nach Freiheit und Demokratie sehnen, dass sie gar nicht so anders sind als man selber. Sogar Google gebe es da, stellte man überrascht fest, als Wael Ghonim, der Initiator der Revolution, im Rampenlicht stand. In Israel selber förderte das neue Allianzen. Palästinenser bauten eigene Zeltstädte und entsandten Vertreter in die «Lagerversammlung», und im fast ausschliesslich jüdischen Beer Sheva trat eine Beduinin, Hannan al-Sanna, als Rednerin auf. Alt-Linke, frustriert nach jahrelangem Kampf für die Rechte der Palästinenser, frohlocken über den Gesinnungswandel.

Doch als bei einem Angriff palästinensischer Militanter nahe der ägyptischen Grenze acht Israelis getötet wurden, israelische F-16 Gaza bombardierten und Qassam-Raketen in der Gegenrichtung flogen, wechselte die Debatte blitzartig auf das vertraute Thema Bedrohung. Kurz vor meiner Ankunft hatte der türkische Präsident Erdogan angekündigt, die nächste Flotille nach Gaza werde von seiner Marine begleitet, und Radikale hatten die israelische Botschaft in Kairo zu stürmen versucht. Die Angst vor einem verhängnisvollen Verlauf der Ereignisse, einem Krieg womöglich, war spürbar in fast jedem Gespräch. «Der Instinkt sagt immer, es wird gegen uns gehen», meint Assaf Gavron, und es hilft nicht, zu wissen, dass Israel die stärkste Armee der Region und mit den USA die stärkste Militärmacht der Welt als Verbündeten hat.

Der Orientalist Idan Barir findet es umso wichtiger, ein nüchternes Bild der Lage zu zeichnen. Schlaflose Nächte bereitet dem 31-Jährigen weniger die Politik als seine drei Wochen alte Tochter, zumal die Doktorarbeit über den Nordirak in der späten ottomanischen Periode auch noch nicht aus den Windeln ist. Idan betreibt mit Kollegen die Website «Different Angle», wo sie Artikel der arabischen und türkischen Opposition aus Presse und Internet übersetzen wie etwa «How to Put an End to the Revolution in Six Steps» des prominenten ägyptischen Romanciers Alaa al-Aswani, der von der Katerstimmung der Revolutionäre zeugt nach ihrer Niederlage gegen die Militärs. «Bemerkenswert ist», sagt Idan, «dass sie niemand anderem als sich selber die Schuld geben.»

Es sei für ihn als Israeli jedoch fast unmöglich, mit ägyptischen Oppositionellen direkt in Kontakt zu kommen, meint Idan. Niemand in Ägypten habe sich seit dem Beginn der Revolte für den Frieden mit Israel starkgemacht. Während Mubarak an wirtschaftlicher Zusammenarbeit interessiert war, liess er Hassausbrüche gegen Israel zu, und daran, sagt Idan, werde sich kaum etwas ändern. Israel hat ein akademisches Institut in Kairo, einen Ableger der Israel Academy of Sciences and Humanities; Ägypten jedoch sei bis heute an kultureller Zusammenarbeit nicht interessiert. Während ägyptische Autoren fleissig ins Hebräische übersetzt werden — und sei es nur, «um den Feind zu kennen» —, können Ägypter keine israelischen Autoren lesen. Idan Barir erzählt, wie er in der Schule das Alphabet gelernt hat mit Wörtern wie «Friedenstaube», das zwischen «Panzer» und «Kampfjet» kam. Ihn stört dieser Militarismus, und doch ist es nicht wie in Ägypten, wo antisemitische Traktate wie «Die Protokolle der Weisen von Zion» oder Hitlers «Mein Kampf» an jeder Strassenecke zu haben sind.

Yaron Ezrahi, Politikwissenschaftler an der Hebrew University of Jerusalem, ist zuversichtlicher, was die grenzüberschreitende akademische Solidarität betrifft. Die arabischen Intellektuellen hätten Israel gehasst, weil es die Diktatoren unterstützte, meint er, und findet es verhängnisvoll, dass man Pessimisten für Realisten hielt, Leute, die nicht müde wurden, zu sagen, die Araber sehnten sich nicht nach Freiheit. «Der Held der arabischen Welt ist nicht mehr der Selbstmordattentäter, sondern der unbewaffnete Freiheitskämpfer», sagt Ezrahi, «und das ist auch zum Vorteil Israels.»

 

Jerusalem
Der Untergang der Hauptstadt und warum sich selbst überzeugte Zionisten nicht
mehr mit der Politik ihres Staates identifizieren können

Von Charlie Chaplin stammt die Bemerkung, aus der Nähe betrachtet sei das Leben eine Tragödie, aus der Ferne eine Komödie. Wer Jerusalem besucht, sieht sich hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Perspektiven. Ich folgte einer Gruppe australischer Pilger, die ein Holzkreuz die Via Dolorosa hoch stemmten durch das Gewühl arabischer Händler, muslimischer Studenten, katholischer Mönche, polnischer Touristen, orthodoxer Priester, amerikanischer Juden und beleibter Männer, welche die Gasse säumten und stoisch an ihrer Shisha nuckelten. Angelangt bei der Grabeskirche, stellten die Pilger ihr Kreuz zu den anderen ins Depot — ein Mietobjekt.

Ein besorgt dreinblickender Herr hatte mir zuvor ein Flugblatt in die Hand gedrückt, das die «Lüge der Evolution» entlarvte, die «törichte Professoren, die römisch-katholische Kirche und ‹National Geographic›» verbreiteten. Jerusalem kann einen tatsächlich an der Evolutionstheorie zweifeln lassen. Der Streit um die Stadt, die seit dreitausend Jahren als Brücke zwischen Himmel und Erde gilt, wird mit ewig gleichen Argumenten gefochten. Während fundamentalistische Juden die Al-Aqsa-Moschee in die Luft sprengen und Islamisten sämtliche Ungläubigen vertreiben wollen, prügeln sich christliche Mönche und Priester immer wieder um die Erbschaft des Predigers der Nächstenliebe.

Jerusalem ist ein Jahrmarkt der Religionen und Ethnien, der ohne staatliche Regulierung kollabieren würde. Israelische Soldaten mit Gewehren flankieren den Leidensweg Christi, und der Zutritt zur Klagemauer und zum Felsendom erfolgt durch Sicherheitsschleusen, die nur durchlassen, wer nicht an den jeweils falschen Gott glaubt. Die politische Karte der Altstadt gleicht einem Gemälde von Piet Mondrian: Geometrisch streng sind die muslimischen, jüdischen, armenischen und christlichen Viertel voneinander getrennt. Ostjerusalem hingegen ist ein Tableau von Jackson Pollock, mit bunten Flecken und Schlieren, die ein Gemenge von Palästinensern, Beduinen und jüdischen Siedlern wiedergeben. Der kalte Religionskrieg, das militärisch garantierte Gleichgewicht des Glaubens, wird hier zum heissen.

Der Spaziergang vom Damaskustor zum Brandherd der Stadtpolitik führt durch Rauchwolken von Kebabständen. Doch zuvor passiert man das American Colony Hotel, eine Oase des Luxus, wo die Grössen der Weltpolitik absteigen. Da traf ich auf Munther Fahmi, den Buchhändler, der zu seinen Kunden Jimmy Carter, Kofi Annan und Uma Thurman zählt und mit Schriftstellern wie Ian McEwan, David Grossman und Orhan Pamuk befreundet ist. Ihm selber wäre es lieber, er wäre nicht zur Berühmtheit geworden. Fahmi ist einer von 14 000 Palästinensern, denen die israelischen Behörden das Aufenthaltsrecht in Jerusalem entzogen haben mit der Begründung, wegen mehr als siebenjähriger Abwesenheit habe er es verwirkt. Er war dreizehn, als die israelische Armee 1967 Ostjerusalem eroberte und seinen Vater, einen Schulvorsteher, für ein halbes Jahr verschwinden liess. Fahmi studierte in den USA und kehrte später in seine Heimatstadt zurück, doch seit dreizehn Jahren kann er sie nur noch mit einem drei Monate gültigen Touristenvisum betreten. Jetzt wollen ihm die Behörden auch das nicht mehr geben. Er kämpfte bis zum Obersten Gericht für eine unbeschränkte Aufenthaltsbewilligung und verlor, appellierte ans Innenministerium für einen Gnadenerlass und verlor auch da. Nun wird er seine Buchhandlung mit ihrem gepflegten Sortiment zum israelisch-arabischen Konflikt, seine kranke Mutter und seine Wohnung in Jerusalem zurücklassen müssen. Zwar ist er amerikanischer Staatsbürger, doch das US-Konsulat kümmert sich nicht um ihn. «Sässe ich in einem chinesischen Gefängnis, wäre das anders», sagt er.

Munther Fahmi erzählt mit einer Mischung aus sarkastischem Lachen und unterdrückter Wut. Er hat genug vom Wanderleben, genug von einem Staat, wo Juden aus aller Welt sich niederlassen dürfen und er, der hier geboren und aufgewachsen ist, nicht mehr sein darf. Doch wer weiss, meint er, vielleicht werde sich alles einmal geben, Frankreich sei ja nun auch mit Deutschland versöhnt, und daran habe einst auch niemand glauben können.

Der Unterschied ist, dass hier zwei Völker dasselbe Land beanspruchen. Es sind nur ein paar Schritte vom American Colony Hotel zum Stadtteil Sheikh Jarrah, einem der meistumkämpften Territorien in Ostjerusalem. Geplatzte Abfallsäcke dünsten in der Sonnenglut, an einer Kreuzung steht ein verstaubter Olivenbaum, über einem Haus flattert der Davidstern. Jüdische Siedler erwerben Immobilien, indem sie das Zehnfache des Marktpreises hinblättern, Strohmänner vorschicken oder geltend machen, ihre Vorfahren hätten da gewohnt. Alles ist legal, doch was das Gesetz den Juden ermöglicht, verweigert es den Arabern. Sie können ihre in Westjerusalem verlorenen Häuser nicht zurückbekommen, da sie nach israelischem Recht 1948 zu «Abwesenden» geworden sind.

Jeden Freitagnachmittag demonstrieren Israelis gegen die Vertreibung von Palästinensern aus Sheikh Jarrah und die Übernahme des Quartiers durch Siedler, gegen die Fait-accompli-Politik, die eine Zweistaatenlösung mit Ostjerusalem als Hauptstadt Palästinas in immer weitere Ferne rückt. Oft sind Prominente mit dabei wie der Schriftsteller David Grossman, der Historiker Zeev Sternhell oder der frühere Generalstaatsanwalt Israels, Michael Ben-Yair, der hier geboren wurde.

Es waren diesmal wenige, junge Leute mit Trommeln und Schellen, trotzige Männer, die Parolen skandierten, Frauen mit halbgeschorenem Schädel und dem unschuldigen Zorn Heranwachsender im Gesicht. Zwei, drei elegant gekleidete Damen vom Typus urbane Linke waren mit dabei. Busfahrer hupten zustimmend, israelische Polizisten standen herum, in der Luft kreiste ein Helikopter. Der Anblick hatte etwas rührend Hoffnungsloses, und es schien mehr darum zu gehen, die Selbstachtung nicht zu verlieren, als Illusionen zu nähren, man könne die Politik des Staates ändern, dessen Bürger man ist. Der kleine Zug hielt beim Haus eines Palästinensers, Nabeel al-Kurd. Der ältere Mann mit grauem Schnauz, gestärktem Hemd und gebügelter Hose berichtet, wie der Anbau zu seinem Haus beschlagnahmt wurde, wie Kinder jüdischer Siedler eingezogen seien, wie seine Familie von ihnen belästigt werde. Proteste bei der Polizei hätten nichts gefruchtet. Die Israelis hätten die Macht, sagt er, sie aber hätten Gott.

Seit in Silwan, einem palästinensischen Stadtteil am Fuss des Felsendoms, die Aufsicht über die Touristenattraktion der «Stadt Davids» der Siedlerorganisation El Ad übergeben wurde, ist die Ausgrabungsstätte der Brückenkopf zur «Judaisierung» beziehungsweise «Entarabisierung» ganzer Viertel. Wie in Sheikh Jarrah wird argumentiert, Juden hätten da gelebt, nur dass es nicht vor siebzig, sondern vor dreitausend Jahren war. Israelische Archäologen der Organisation Emek Shaveh wehren sich vergeblich dagegen, dass die Schaufel zur Waffe wird in einem Gebiet, in dem die Israeliten nur eine Schicht zahlloser Besiedlungen ausmachen, die sich von der Bronzezeit bis zum Königreich der Haschemiten aufeinandertürmen wie in einer Hochzeitstorte.

Verbeulte Autos, mit Tüchern verhängte Gitterzäune und ein Tor, das mit einer Batterie rauchgeschwärzter Gamellen geschmückt ist, markieren die Kampfzone. Die Israel-Fahne steht über ein paar Gebäuden, von deren Mauern Videokameras die mit Unrat übersäte Strasse visieren. Ahmed Qaraeen ist einer der Einwohner, unter dessen Haus gegraben wird. Er zeigt Fotos vom Bauplatz, den wuchtigen Maschinen, die alles ins Wackeln brachten, den Rissen in den Wänden, die sie verursachten. Da er den Einsturz seines Hauses fürchtet, ging er vor Gericht, erfolglos. Ganze Häuserzeilen würden abgerissen, meint er, «nur weil sie sagen, König David ging da mit seiner Frau spazieren». Er erzählt, wie Siedler seine Kinder schlugen, zwei Söhne im Alter von zehn und elf, und wie einer der Siedler dann, als er hinzukam, seine Beine zerschossen habe. Ahmed ist vierzig, geht an einer Krücke und kann nicht mehr als Lastwagenfahrer arbeiten. Er sorgt sich, was seine Söhne wohl machen werden, wenn sie zwanzig sind. «Sie treiben uns in die dritte Intifada», sagt er, und es klingt mehr wie eine Feststellung als eine Drohung.

Rami Nasrallah, ein schlaksiger Mann von feiner Wesensart, hofft trotz allem auf Vernunft. Der Stadtplaner und Leiter der lokalen NGO International Peace and Cooperation Center hat mit seinem israelischen Kollegen Shlomo Hasson einen Plan für ein offenes Jerusalem entworfen. Als Hauptstadt Israels und Palästinas soll sie politisch geteilt werden, doch physisch, wirtschaftlich und sozial vereint bleiben; eine Stadt, in der Juden, Christen und Muslime sich heimisch fühlen können.

Es wird, wenn in dieser an Wundern reichen Metropole nicht ein neues Wunder geschieht, nicht dazu kommen. Nasrallah zählt auf, was alles dagegen spricht, die Geschichte eines Niederganges, dessen Ende nicht abzusehen ist. Erst wurde Jerusalem für Palästinenser aus dem Umland gesperrt, dann mussten jene, die in den Vororten leben, einen Wohnsitz im Zentrum nachweisen, und nun trennt die 142 Kilometer lange Sperrmauer selbst 60 000 Einwohner administrativ zur Stadt gehörender Aussenquartiere von ihr ab; zu Schulen und Krankenhäusern können die Betroffenen nur via israelische Checkpoints.

Über ein Drittel der Stadtbevölkerung sind Palästinenser, ihr Anteil ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Doch die Aristokratie, die Naschaschibis und Husseinis, lebt heute in New York, London oder am Golf, und die Mittelschicht ist nach Ramallah gezogen. 1967 gab es noch 2200 Hotelzimmer in Ostjerusalem, heute sind es weniger als 900. Lediglich sieben Prozent des Stadtbudgets kommen dem Osten zugute, der zunehmend verslumt. Es gibt kein Geld für Pärke, für Schulen, für Kinderspielplätze, und die Moscheen werden als letzte Treffpunkte Rekrutierungsfelder für Islamisten. Westjerusalem geht es kaum besser, verliert es seine jüdische Mittelklasse doch an ultraorthodoxe Zuzüger.

«Israels Problem ist die Illusion, dass Macht keine Grenzen hat», meint Rami Nasrallah auf die Frage, weshalb auf israelischer Seite zwar angesehene, aber nur vereinzelte und einflusslose Persönlichkeiten eine Wende wollten. Nasrallah ist 1968 geboren, seine Karriere verlief parallel zum Verfall seiner Vaterstadt, und gefragt, weshalb er nicht aufgibt und weggeht, sagt er lächelnd: «Es ist uns nie langweilig hier.»

Doch mehr und mehr Israelis denken ans Auswandern. Eine neue Generation, gereist und gebildet, will nicht mehr unbedingt in einem Land leben, das zu nationalistisch, zu religiös und zu leicht angreifbar geworden ist. Ein junger Staatsangestellter in Ostjerusalem, der nicht mit Namen genannt sein will, erzählte mir, er habe sich während der UNO-Debatte zu Mahmoud AbbasÂ’ Auftritt gefühlt wie in Nordkorea — Israel allein, alle gegen einen, war die Jeremiade der Meinungsmacher. Selber ein überzeugter Zionist, kann er sich mit der Politik seines Staates nicht mehr identifizieren. Die radikale Regierung, das Diktat der Siedler, die hohen Lebenskosten, alles kommt zusammen. Seine Frau ist wie er voll berufstätig, sie haben ein Kleinkind, und auf der zehnstufigen Einkommensskala seien sie auf Stufe acht, sagt er, aber wenn ihr altes Auto den Dienst aufgebe, wüssten sie nicht, wie ein neues bezahlen. Krankenversicherung, Kinderkrippe, Kosten für dies und das, er habe, wie das auf Hebräisch heisst, «nicht genug, den Monat zu Ende zu bringen». Er hat in Freiburg im Breisgau studiert, über die Rolle der katholischen Kirche in Nazideutschland dissertiert, ist nun Mitte vierzig und muss sich vom Traum einer akademischen Karriere verabschieden. Immer wieder denkt er an Deutschland, wo alles besser war, und er hat auch schon einen deutschen Pass; der war umstandslos zu bekommen, weil sein Grossvater Deutscher war. Abertausende hätten sich einen polnischen, rumänischen oder sonstigen EU-Pass besorgt, weil sie nicht mehr an Israel glaubten, sagt er. Über zehntausend junge Israelis sind nach Berlin gezogen, wo sie sich frei entfalten können, die Kinderkrippe ein Zehntel so viel kostet und ein Kilo Gurken die Hälfte.

 

Al-Quds University, Jerusalem
Gespräch mit dem palästinensischen Philosophen Sari Nusseibeh, der sich für einen vorläufigen
Verzicht auf den eigenen Staat ausspricht

Von der Altstadt zur al-Quds University, der arabischen Universität, war es bis vor kurzem ein zwanzigminütiger Spaziergang. Nun braucht man der Mauer wegen das Auto, eine Fahrt von drei viertel Stunden, sofern der Stau am israelischen Checkpoint nicht zu gross ist. Als ich mit ein paar Studentinnen und Studenten abends zurückfuhr, mussten wir aussteigen und uns ausweisen, bevor wir wieder in den Bus nach Ostjerusalem durften.

Auch der Campus hat einen Checkpoint. Ich kam unangemeldet, doch es dauerte nur ein paar Telefonate, und ich stand im Vorzimmer von Sari Nusseibeh, dem Rektor, der gerade in Genf weilte und meine Fragen später schriftlich beantwortete. Deya Kholy, ein 23-jähriger Elektroingenieurstudent, führte mich herum, zeigte mir die Fakultätsgebäude und den von Kommilitonen entworfenen Garten. Die Mehrheit der Studierenden seien Frauen, sagt er und lacht verlegen, als ich meine, das sei gut für ihn. Es wäre auch gut für Europas Islamophobe, sie zu sehen. Fast alle tragen das Kopftuch, aber in was für Aufmachungen: feuerrot etwa, mit gleichfarbener Hüftschleife, Stöckelschuhen und weissem Kleid; aufreizend und stilvoll, wie man es an keiner westlichen Universität sieht.

Der Campus beherbergt das Abu Jihad Museum über die Tausenden von Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen sitzen, teils seit Jahren ohne Anklage und ohne Verteidiger. In der Ausstellung, erklärt eine Broschüre, folge man «dem Leidensweg des Palästinensers Jesus Christus, der auf der Via Dolorosa von Juden zugefügte Todesqualen erlitt». In einer Vitrine sind kleine, in Plastik verpackte Papierröllchen zu sehen; Briefe, die geschluckt und hinausgeschmuggelt wurden.

Sari Nusseibeh hat selber einst solche Röllchen geschluckt, als er Botschaften aus dem besetzten Westjordanland zur PLO-Führung nach Amman brachte. Der 62-jährige Philosoph, der in Oxford studierte und ein Experte für den mittelalterlichen Gelehrten Avicenna ist, entstammt einer der führenden Familien Jerusalems, mit grossem Landbesitz und Vorfahren, die bis auf eine der Frauen Mohammeds zurückreichen sollen. War König Hussein von Jordanien in der Stadt, kam er zum Mittagessen zu den Nusseibehs, und als sich vor Jahrhunderten rivalisierende christliche Glaubensgemeinschaften um den Schlüssel zur Grabeskirche stritten, wurde er der muslimischen Familie anvertraut, in deren Obhut er noch heute ist.

Nusseibeh ist wohl der ungewöhnlichste palästinensische Intellektuelle. Den Werten der westlichen Aufklärung verpflichtet, hat er Schelte von allen Seiten bekommen. Er ist der geistige Vater der ersten Intifada, des Versuchs, mit Streiks und Steinewerfen zivilen Ungehorsam zu demonstrieren, findet aber, die Juden hätten ein historisches Anrecht auf das umstrittene Land. Palästinensische Militante haben ihn spitalreif geprügelt, weil er gesagt hat, wer den Frieden wolle, könne nicht auf dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nach Israel beharren, und die Israelis haben ihn während des ersten Golfkrieges inhaftiert mit der absurden Verdächtigung der Spionage für den Irak. Trotzdem hat er mit Ami Ayalon, dem früheren Direktor des Inlandgeheimdienstes Shin Bet, 2003 in einer Friedensinitiative zusammengespannt. Während Nusseibeh von Arabern der «Konversion zum Judentum» bezichtigt wird, gilt er bei Israels Rechter als «das lächelnde Gesicht des palästinensischen Terrors».

Ein Humanist von Naturell, beklagt Nusseibeh die Unfähigkeit beider Seiten, in der Fixierung auf ihre je eigene Tragödie das Leben der anderen zu sehen. Er selber hat Hebräisch gelernt, in einem Kibbuz gearbeitet und ist als Student mit der El Al geflogen aus politischer Neugier. «Mitten unter Israelis in einer feindlichen Maschine zu sitzen und von hinreissenden israelischen Stewardessen bedient zu werden, haben die Art und Weise, wie ich an den palästinensisch-israelischen Konflikt herangehe, stark beeinflusst», meint er verschmitzt.

Sein Vater hatte 1967 nach dem Sieg der Israelis Yassir Arafat eindringlich gebeten, über eine Zweistaatenlösung zu verhandeln, bevor sich deren Position verhärten und dies nicht mehr möglich sein werde. Arafat ignorierte den Rat, und mehr als vierzig Jahre später ist die Zweistaatenlösung immer noch auf dem Wunschzettel. Doch nicht bei Sari Nusseibeh, der eben ein Buch publiziert hat, worin er sich für den vorläufigen Verzicht auf einen Palästinenserstaat ausspricht. «What Is a Palestinian State Worth?» ist ein Versuch, aus der Sackgasse herauszukommen, ein Gedankenexperiment, in dem das Wohl des Individuums dem Beharren auf nationalstaatlicher Souveränität gegenübergestellt wird. Israel soll den Palästinensern in den besetzten Gebieten alles offerieren, was israelischen Bürgern zusteht, so der Vorschlag, wenn sie im Gegenzug auf das Stimm- und Wahlrecht verzichten. Sie bekämen gleiche Bildungsmöglichkeiten, Kranken- und Altersversicherung, Rede- und Bewegungsfreiheit. Damit würden sie zu Bürgern zweiter Klasse, wie es die Schweizer Frauen vor der Einführung des Stimmrechts 1971 waren, wären jedoch viel besser dran als jetzt.

«Wenn man Macht als die Fähigkeit definiert, politischen Wandel zum eigenen Vorteil zu bewirken, dann sind die Palästinenser die Mächtigen, gerade weil sie unterdrückt werden», sagt Nusseibeh. Der Stärkere lässt sich nicht zur Kursänderung zwingen, aber dazu bringen, seine Gefühle und Gedanken zu ändern. Kämpfer wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela haben das zuwege gebracht.

Gefragt nach den Reaktionen auf seinen Vorschlag, meint Nusseibeh nur, dass man ihn für verrückt halte, was ihn nicht wundere angesichts der Blickstarre der Leute, die nichts Neues wahrnehmen wollten. Seine Idee, einen öffentlichen Raum zu schaffen für Israelis und Palästinenser, wo sie sich als Menschen und nicht als Verkörperungen nationaler Dogmen begegnen, sieht er als Zwischenstufe zu einer Zweistaaten- oder Einstaatenlösung. Ob er eine solche für möglich halte noch zu seinen Lebzeiten, frage ich ihn. Er antwortet philosophisch, da niemand die Zukunft kenne, sei es möglich. «Und sei es aus blossem Überdruss und Konfliktmüdigkeit. Allmählich beginnen beide Seiten zu erkennen, dass keine gewinnen kann, ein Patt ruinös ist und es hüben und drüben nur noch abwärtsgeht.»

Im Dorf Li-On
Der Historiker Benny Morris ist pessimistisch

Auf dem Weg nach Jerusalem hatte ich einen Nachmittag mit Benny Morris verbracht. In seinem Haus im Dorf Li-On war Trubel. Die Enkelkinder waren zu Besuch, die zwei Hunde in Hochstimmung, und Benny wartete auf das Taxi, das ihn ins Fernsehstudio bringen sollte für ein Interview von al-Jazeera. In London war er von Arabern bedrängt worden, weil er sagte, was sie 1948 gemacht hätten, sei ein Jihad gewesen.

Benny Morris ist der Pionier der «Neuen Historiker» Israels, die den Mythos der Staatsgründung vom Sockel holten. Sechzig Prozent der Palästinenser, wies er nach, sind nicht freiwillig gegangen, sondern vertrieben worden. Morris sass im Gefängnis, weil er in der ersten Intifada den Dienst verweigerte, und bekam sechs Jahre an keiner Uni eine Stelle.

Dann, im Jahr 2000, nach Camp David und nachdem Yassir Arafat Präsident Clintons Vorschlag für zwei Staaten abgelehnt hatte und die zweite Intifada losging, ist etwas mit Benny Morris passiert. Er kam zur Überzeugung, die Palästinenser wollten keinen Frieden, sondern einen Staat für sich, ohne Juden. Sie sähen Israel als «Kreuzritter-Festung», die es zu eliminieren gelte. «Der Westen will das nicht wahrhaben», sagt Morris, und es sprudelt nur so aus ihm heraus: dass die arabische Welt den Hass auf Israel predige, dass die neuen Regime das weiterhin tun würden, dass die Muslim-Bruderschaft ein Wolf im Schafspelz sei und dass die westlichen Araber in den Cafés von Paris eine Multikulti-Illusion nährten, die mit der Wirklichkeit des Nahen Ostens nichts zu tun habe.

«Ich bin Pessimist», sagt er dann, redet von «Wellen palästinensischer Gewalt» im Gefolge des UNO-Vorstosses von Mahmoud Abbas, vom Aufruhr der Bewegung im Landesinnern, den er für gerechtfertigt, aber gefährlich hält. Und davon, dass man immer mehr Minarette und mehr verschleierte Frauen sehe, dass die Führer der arabischen Israelis sich mit den Palästinensern identifizierten, nach der Streichung der Charakterisierung Israels als «jüdischem Staat» riefen, nach Minoritätsrechten und vielleicht gar nach Autonomie.

Benny Morris verkörpert die Widersprüche des Landes und die Vertracktheit des Konflikts wie kaum jemand sonst. Er wirft Netanyahu vor, den Palästinensern nicht die Zweistaatenlösung angeboten zu haben, hält sie aber selber für keine Lösung, weil die PLO das Westjordanland zur Raketenbasis gegen Israel ausbauen werde wie die Hamas das mit dem Gazastreifen getan hat. Er ist überzeugt, dass die Palästinenser einen Staat haben müssen, nur schon, «um Israel Legitimität zu geben», er versteht ihren Hass — «schliesslich haben wir zwei Drittel ihres Landes gestohlen» — und meint doch, während sie sich als Opfer hätten darstellen können, sei in Wahrheit Israel die schwächere Partei, knapp sechs Millionen Juden gegen mehr als eine Milliarde Muslime weltweit. Diese wüssten um ihre Macht, ihren Ölreichtum, und während sie die Niederlage gegen die Kreuzritter in Spanien hätten akzeptieren können, könnten sie die gegen Israel nie und nimmer.

So nüchtern Benny Morris als Historiker in seinen Büchern ist, so sehr lässt er sich hinreissen, wenn er redet. Vielleicht, dachte ich, ist das weniger widersprüchlich als logisch, eine Folge der Tatsache, dass die Fakten nicht aufgehen und man damit als Intellektueller schlecht leben kann. Er schreibe jetzt an einem Buch über die Armenier, sagt er, um vom Thema «Israel und die Araber» wegzukommen. Dann, als könnte auch er nicht ohne Hoffnung leben, redet er von den «Kataklysmen der Geschichte», den Katastrophen, die ein Volk zum radikalen Umdenken bringen können, wie das mit den Deutschen und den Japanern geschehen sei, deren Kriegslüsternheit die Niederlage von 1945 ein Ende machte.

Der Fahrer von al-Jazeera kommt, und Benny Morris zeigt mir auf dem Weg nach Jerusalem in der sonnengedörrten Landschaft die Siedlungen, die Strassensperren, die Drahtzäune zum Schutz vor Steinwürfen, die nur für Israelis oder nur für Palästinenser reservierten Verkehrswege. Irgendwo gibt es Überreste einer römischen Heerstrasse, Bethar ist zu sehen, der Ort, wo Bar Kochba, der Führer des jüdischen Aufstandes gegen die Römer, getötet wurde. Benny trägt immer noch seine olivgrünen Cargohosen, doch das San Francisco-T-Shirt hat er für al-Jazeera gegen ein Hemd getauscht.

Hebron
«Israelis können hier normal leben, weil die Palästinenser abnormal leben müssen»,
sagt Mikhael Manekin.

Von Jerusalem ist es eine halbe Autostunde bis nach Hebron. Breaking the Silence, eine Organisation israelischer Reservisten, macht Touren zu der Stadt, die einer der berüchtigtsten Konfliktherde des Westjordanlandes ist. Das Grab Abrahams, des Stammvaters der Juden, Christen und Muslime, ist in Hebron, und der Morde wegen sind die Vereinten Nationen mit einer Friedenstruppe hier, nebst NGOs mit weissen SUV und blonden Beobachtern, die in Safariwesten die Strassen patrouillieren.

Das Zentrum ist leer wie Gary Coopers Hadleyville in «High Noon». Verriegelte Läden und verrammelte Eingänge säumen die Hauptstrasse, in der ein hüfthohes Mäuerchen zwei Drittel abtrennt für Israelis, die fahren, und ein Drittel für Palästinenser, die nur gehen dürfen. Der Bürgermeister hat sie in «Apartheid-Strasse» umgetauft, für die jüdischen Siedler ist es die «König-David-Strasse». Sie gehört zur Zone H2, wo rund achthundert Siedler von ebenso vielen israelischen Soldaten vor rund dreissigtausend Palästinensern geschützt werden.

Eine Batterie Lautsprecher steht auf dem Dach des Gutnick Center Hebron, von wo die Siedler mit Musik von der Sorte Grateful Dead die palästinensischen Einwohner beschallen. Schimpfworte nachrufen, Wände beschmieren, Abfallsäcke in Gärten werfen seien weitere Belästigungen, mit denen sie ihren Nachbarn das Leben versauerten, sagt Mikhael Manekin, der Führer unserer kleinen Gruppe. Ein paar jüdische Schüler sind eben lachend auf dem Nachhauseweg, und Mikhael zeigt uns die palästinensische Schule, die ihren Stundenplan ändern musste, damit ihre Kinder nach Schulschluss nicht mehr mit einem Steinhagel empfangen werden. Mikhael selber ist schon von Siedlern tätlich angegriffen worden; er war einer der Ersten, der für Breaking the Silence über seinen Dienst in Hebron aussagte.

«Israelis können hier normal leben, weil die Palästinenser abnormal leben müssen», sagt er. Zu seinen Aufgaben als Infanterieoffizier hat gehört, die Palästinenser die Präsenz des Militärs fühlen zu lassen. Mit Hausbesuchen mitten in der Nacht, wo man die Bewohner geweckt, nach Frauen und Männer getrennt habe und sie lange Formulare ausfüllen liess, die hinterher ungelesen im Papierkorb landeten. Mikhael ist zweiunddreissig, hat Biologie und Informatik studiert und redet über Politik mit der kühlen Leidenschaft des Wissenschaftlers für Fakten. Er verurteilt die Apartheid-Strategie, meint aber, anders gehe es nicht, wolle man ein Gemetzel vermeiden. Hebron hat seit der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 eine jüdische Gemeinde, doch die jüngste Geschichte der Stadt ist eine Chronik der Massaker, vom Pogrom gegen die Juden 1929 mit 67 Todesopfern bis zum Blutbad von 1994, das der Siedler Baruch Goldstein anrichtete, als er 29 Muslime beim Gebet in der Abraham-Moschee mit seinem Sturmgewehr niedermähte. Goldstein ist ein Held für die Extremisten, in Hebron steht ein Denkmal für ihn. 2001, in der zweiten Intifada, rächte sich ein palästinensischer Sniper, indem er ein Baby erschoss.

Mikhael ist in New York geboren und in Baltimore als Sohn eines Professorenpaares aufgewachsen; seine Mutter lehrt moderne jüdische Geschichte, sein Vater mittelalterliche jüdische und islamische Philosophie. Religiös orthodox und Zionisten, seien sie beide politisch liberal, sagt Mikhael, der selber gläubig ist und Bart und Kippa trägt. Er gehörte der Golani-Brigade an, einer Eliteeinheit, war Instruktor einer Offiziersschule und diente im Südlibanon und in den besetzten Gebieten. Heute schämt er sich über manches, was er getan hat, die willkürlichen Verhaftungen, die Beschlagnahmung von palästinensischen Häusern, die Einschüchterung von Wartenden an Checkpoints mit Schockgranaten, all die Schikanen einer Besatzerarmee, die sich einer renitenten Bevölkerung gegenübersieht. Es gibt nicht so etwas wie eine «saubere Okkupation», ist die Lehre von Breaking the Silence, die den vollständigen Abzug Israels, der Armee und der Siedler, aus dem Westjordanland fordert. «Wir haben da nichts zu suchen, und was wir jetzt machen, macht alles nur schlimmer», sagt Mikhael Manekin.

Nicht nur in Hebron ist das Dilemma, dass die Trennung der Parteien den Konflikt verhindert und zugleich verhärtet. Man muss die Sperrmauer gesehen haben, um zu begreifen, dass sie mehr ist als eine besonders gut gesicherte Grenze. Mit über siebenhundert Kilometern soll sie doppelt so lang werden wie die Green Line, die Demarkationslinie von 1949. Sie reicht tief ins Westjordanland, fängt israelische Siedlungen ein, schliesst palästinensische Städte aus, schlängelt sich durch fruchtbares Land, versperrt den Zugang zu Feldern und Wasserquellen und macht die Fortbewegung mit Hunderten von israelischen Checkpoints, wo auch ich teilweise abgewiesen wurde, zum Würfelspiel — zwei Schritte vorwärts, drei Schritte zurück. Der Vergleich mit der Berliner Mauer hinkt, der oft gemacht wird, denn Israels Mauer greift brutaler ins Alltagsleben ein, gerade weil sie nicht undurchlässig ist und passiert werden muss, will man nur schon zur Schule, zum Spital und zurück zum eigenen Haus. «Sie ist das perfekte Verbrechen», sagte Sari Nusseibeh einmal, «weil sie die Gewalt erzeugt, die ihr Bau vorgeblich verhindern wollte.»

Eine Bewegung, Fence for Life, hatte den Bau der Mauer erzwungen. Sie war die Antwort auf das Attentat von Saeed Hotari, der sich am 1. Juni 2001 im Eingang der Diskothek Dolphinarium am Strand von Tel Aviv in die Luft jagte und 20 Zivilisten, meist Schüler, mit in den Tod nahm. Für Israelis bedeutet die Mauer Sicherheit, für Palästinenser Landraub, und beide haben Belege dafür. Um achtzig Prozent ist die Zahl der Attentate seit dem Bau zurückgegangen, doch achtzig Prozent der Siedler leben nun zwischen ihr und der Green Line und rechnen damit, zu Israel zu gehören, sollte die Mauer als neue Grenze geltend gemacht werden.

 

Über Ramallah in die Siedlungen
Hila betont, wie normal sie hier alle seien. Es sieht tatsächlich richtig idyllisch aus.

Unterwegs zu Siedlern, die ich besuchen wollte, machte ich halt in Ramallah, der Stadt, wie die Palästinenser scherzen, die das Glück hat, in der Bibel nicht erwähnt zu werden. Ohnehin gehört der Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Zone A, zu der Israelis keinen Zutritt haben. Im Stars & Bucks Café sassen bunt geschminkte junge Frauen mit tiefgeschnittenen Jeans, kunstvoll geknüpftem Kopftuch und qualmenden Wasserpfeifen. Vor dem von vier Löwen flankierten Brunnen des Hauptplatzes thronte ein haushoher weisser Holzstuhl mit blauem Kissen, Symbol für den UNO-Sitz der Nation Nummer 194, die Palästina zu werden hofft. Überall hingen Plakate, Arafat in Uniform mit Kufiya, Mahmoud Abbas im biederen Geschäftsanzug. Sein Amtssitz steht neben dem Mausoleum seines Vorgängers, ein moderner Bau im gleichen gelblichen Marmor. Yassir Arafat ruht in einem schlichten Sarkophag, ein paar Kränze sind daran gelehnt, ein Soldat hält Wache.

Ramallah gilt als das Paris von Palästina mit seinen schicken Bars, teuren Restaurants und wilden Partys. Doch im Orjuwan, wo ich vorbeischaute, war nichts los. Am Morgen um 4.45 Uhr rief der Muezzin durchs Hotelzimmerfenster, und als ich wieder einnickte, krähte mich ein Hahn wach.

Es ist noch etwas früh für Wein, doch wir sind im «Gelobten Land», und der Cabernet Sauvignon der Kellerei von Psagot will gekostet sein. Yisrael Medad, ein Hüne mit Baritonstimme, erhebt das Glas. Medad repräsentiert den Siedlerrat von Samaria, dem Bezirk des Westjordanlandes, der mit Judäa das Gebiet umfasst, in dem sich die biblische Geschichte des Alten Testamentes abgespielt hat.

Vor dreissig Jahren von New York gekommen, hat Yisrael die hemdsärmelige Herzlichkeit des Amerikaners. Dem palästinensischen Taxifahrer, der mich von Ramallah hierherbrachte, hat er durchs Autofenster die Hand hingestreckt, sich zu mir gedreht und gesagt: «Sie sehen, dass wir hier keine Apartheid haben.» Fuad, ein älterer Mann mit trockenem Witz, hatte mitgemacht, und Medad hat den Schatten des Missbehagens, der dem Araber übers Gesicht huschte, nicht bemerkt.

Wir machen eine Fahrt durch die Gegend, besuchen die Siedlungen Eli, Ariel und Shilo, wo Yisrael wohnt, der ein unterhaltsamer Reiseführer ist. Migron kommt in Sicht, 1999 erstellt aus Trailern, einer der auch nach israelischem Recht illegalen Aussenposten, wo eben drei Bauten auf Anordung des Obersten Gerichtes demoliert wurden. In der «Räuberschlucht» sehen wir eine verlassene Polizeistation der Briten und dann den Ort, wo ein Nachbar Yisraels erschossen wurde. Früher, erzählt er, sei er nur mit Gewehr aus dem Haus gegangen, doch heute sei er unbewaffnet wie die meisten hier.

Hila Luxemburg, die am Steuer sitzt, hat Geburtstag. Es ist der Tag, an dem Mahmoud Abbas in der UNO den Antrag auf die Aufnahme Palästinas stellt, und sie meint sarkastisch, was für ein schönes Geburtstagsgeschenk das doch sei. Sie ist 27 und fährt barfuss, das eine Bein untergeschlagen; ihre Stimme, überraschend dunkel für die zierliche Figur, gibt ihr etwas verhuscht Laszives. Als wir auf einem der vielen Hügel über dem Jordantal stehen und Yisrael sagt, man brauche nur die Bibel zu öffnen und finde alles, was man hier sehe, sagt sie, «das ist unser Land».

Sie wird es immer wieder sagen. Die Bibel ist nicht nur das Geschichts-, sie ist auch das Grundbuch. Für Hila und Yisrael gehört das Westjordanland zu Israel, und mit seiner Rede an der Universität Bar Ilan, in der Netanyahu sich auf Druck der Amerikaner für einen Palästinenserstaat aussprach, ist der Premierminister für sie zum Verräter geworden. Wer das Land bebaut, nimmt es nach altem Recht in Besitz, sagt Yisrael und ärgert sich, dass die Regierung nicht sehen will, dass sie, die Siedler, «den Vortrupp bilden und die Ostfront bewachen». Hila zückt ein Buch mit einem topografischen Profil der Gegend, woraus man ersieht, dass die Hügel eine strategische Höhe bilden, von der aus das flache Küstenland, Tel Aviv und Haifa sich darbieten wie Zielscheiben.

Yisrael ist kein Eiferer und hat eine unaufgeregte Antwort auf jeden Einwand, sei es seiner Landsleute, die mehrheitlich für eine Zweistaatenlösung sind, oder des Nahost-Quartetts USA, EU, Russland und UNO, das den Siedlungsstopp und Abriss der Aussenposten fordert. Für ihn gibt es keine illegale Bautätigkeit im Westjordanland. «Es gab jüdische Gemeinschaften hier vor 1948, und wir setzen nur fort, was sie begonnen haben», meint er.

Die Siedlungen, adrette Einfamilienhäuser mit roten Dächern und viel Grün, thronen auf den Hügeln, eng aneinander in bogenförmigen Reihen wie Wehrdörfer. Die benachbarten arabischen Ortschaften sind nicht minder gepflegt, und meine Bemerkung, man könne die beiden von aussen nur an den Moscheen mit den Minaretten unterscheiden, übergeht Yisrael mit höflichem Schweigen. Er zeigt auf Luban e-Sharqiya, ein arabisches Dorf, dessen Name wie viele andere hier hebräische Wurzeln habe, und auf Sinjil, das an Prinz Raymond de Saint Gilles erinnert, den Kreuzritter, auf dessen Festung nun eine Moschee steht.

Etwa ein Drittel Ultraorthodoxe, ein Drittel Nichtreligiöse und ein Drittel Nationalreligiöse oder «moderne Orthodoxe», zu denen Yisrael sich selber zählt, leben in den Siedlungen. Die Warteliste ist lang, die Familien wachsen, es gibt Bedarf nach mehr Häusern und mehr Land. An Platz fehlt es nicht, und wüsste man nichts von Politik, könnte man sich fragen, was denn eigentlich das Problem sei. Anders als in Ostjerusalem muss hier niemand vertrieben werden, und die israelischen Siedlungen schaffen Arbeitsplätze für Palästinenser nicht nur in der Landwirtschaft. In den rund achthundert von Siedlern geführten Betrieben seien von insgesamt 17 000 Beschäftigten 11 000 Araber, sagt Yisrael.

Von Sabotageakten von Palästinensern und Siedlern, die deren Eigentum zerstören, von Ernten, die vernichtet und Weinreben, die verwüstet werden, ist aus dieser Region wenig zu hören. Hila betont, wie normal sie hier alle seien, keine Fanatiker und Fundamentalisten, und wie doch selbst ihre Freunde und Bekannten glaubten, sie stecke nach Büroschluss noch irgendwo einen palästinensischen Olivenbaum in Brand, bevor sie zu Bett gehe.

Die Verbundenheit mit dem Land, das Gefühl, Teil der Geschichte des jüdischen Volkes zu sein, ist spürbar wie der Stolz auf das, was man geschaffen hat auf dem Boden, mit dem die Palästinenser, so lässt man durchblicken, nichts anzufangen wussten. Das Gemeinschaftsgefühl ist stark und für viele der Hauptgrund hierherzuziehen, sagen beide; jeder kennt jeden, man hilft einander und findet sich obendrein noch auf den Titelseiten der Weltpresse. «Wenn ich eine Veranda an mein Haus baue, weiss Präsident Obama davon», scherzt Yisrael.

Wir besuchen die Universität von Ariel, wo Professor Alexander Bligh, der Leiter des eben eröffneten Middle East Research Center, mich aufklärt, dass Mahmoud Abbas ein Nazi sei, der in seiner Doktorarbeit von 1982 an der Patrice Lumumba University in Moskau den Holocaust geleugnet habe und jetzt mithilfe der Muslim-Bruderschaft seinen Plan von der Befreiung Palästinas und der Vertreibung der Juden in die Tat umsetzen wolle. Mit der «Islamischen Republik Ägypten», die kommen werde, sei das Konzept «Land gegen Frieden» bankrott, sagt Bligh, und vielleicht würden nun auch die Europäer einsehen, dass ein Palästinenserstaat nicht wünschbar sei.

Israelische Universitätsdozenten haben zum Boykott der Hochschule von Ariel aufgerufen, und die Siedlung kam in die Schlagzeilen, als Künstler erklärten, sie würden in deren neu erbautem Kulturzentrum nicht auftreten. Die Knesset verabschiedete hierauf ein «Gesetz zur Abwendung von Schaden, der dem Staat Israel durch Boykott entsteht»; wer sich an Aufrufen beteiligt, kann auf Schadenersatz verklagt und von staatlichen Subventionen ausgeschlossen werden. Das verstosse gegen das Grundgesetz, kritisierten Juristen, und die israelische Friedensorganisation Peace Now rief in der Folge zum Boykott sämtlicher Produkte aus Siedlungen im Westjordanland auf. «Damit schaden sie am meisten den Arabern, die bei uns arbeiten», meint Yisrael.

Wir essen zu Mittag im Sport Center von Ariel, mit 20 000 Einwohnern eine der grössten Siedlungen im Westjordanland. Vom Restaurant kann man auf den Swimmingpool hinuntersehen, der Olympiagrösse hat und worin die Russen, nahezu die Hälfte der Stadtbewohner, wie die Verrückten zu trainieren pflegen. Sollte es zu einem Friedensschluss und zur Zweistaatenlösung kommen, wird Ariel voraussichtlich zu Israel gehören, anders als das kleine Shilo, wo nur dreihundert Familien leben.

Was er tun würde, wenn er Palästinenser wäre, frage ich Yisrael Medad. «Ich würde mir sagen, wir haben neunzig Jahre gegen die Juden gekämpft, und was hat es gebracht? Nichts!», antwortet er ohne Zögern. «Vor fünfzig Jahren wäre ich als Palästinenser vielleicht ein Terrorist gewesen, aber heute?» Er meint, sie sollten nach Jordanien, wo sie bereits jetzt in der Mehrheit sind. Die Frage, ob er sich vorstellen könnte, im Westjordanland unter palästinensischer Verwaltung zu leben, ist für ihn keine.

Die erste Siedlung in Samaria, Ofra, wurde 1975 mit der Genehmigung des damaligen Verteidigungsministers Shimon Peres errichtet, und noch heute kann kein Haus gebaut werden ohne Unterschrift seines Amtsnachfolgers. Auf palästinensischem Privatboden zu bauen, ist nach israelischem Recht unzulässig, hindert die Armee jedoch nicht, für «Sicherheitszwecke» Aussenposten zu bewilligen. Nach Angaben von Peace Now kontrollieren die Siedlerräte der mittlerweile 300 000 Siedler die Hälfte des Westjordanlandes. Von ihnen ist nicht zu erwarten, dass sie auf das verzichten, was man sie nehmen lässt. Sämtliche israelischen Regierungen nach 1967, sowohl linke wie rechte, haben das Siedlungsprojekt toleriert, wenn nicht unterstützt. David Ben-Gurion, Israels erster Premierminister, hatte nach der Besetzung des Westjordanlandes einen raschen Abzug gefordert, doch auf ihn wurde nicht mehr gehört. Israel hatte nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 fast doppelt so viel Land, wie der UNO-Teilungsplan vorsah, und die Aussicht auf neuerlichen Landgewinn als Folge eines Krieges, den wiederum die Nachbarländer vom Zaun gerissen hatten, war zu verlockend. Doch 1949 war kaum vier Jahre nach dem Holocaust, und Europa hatte noch Kolonien. 1967 war die Dekolonisation fast abgeschlossen und kein Verständnis mehr da für einen Staat, der auf Eroberung aus war. Die jungen Siedler, die den zionistischen Pionieren von 1892 bis 1948 nacheifern wollten, realisierten nicht, dass sie sich nicht mehr auf zugesprochenem, sondern auf besetztem Land niederliessen und damit gegen das Völkerrecht verstiessen.

 

Akko und Sakhnin, Galiläa
Besichtigung einer arabisch-jüdischen Freundschaft

Die Fahrt von Jerusalem nach Akko in Galiläa führt über Tel Aviv. Der Zug windet sich durch eine karge Hügellandschaft bis in die Ebene der Mittelmeer-Metropole. Dromedare lagerten am Bahngeleise, als schon die ersten Hochhäuser in Sicht kamen. Im Wagen war eine Gruppe Mädchen, die so lärmten, dass der Kondukteur sie barsch zurechtwies, was sie mit — wie ich aus seiner Reaktion schloss — frechen Bemerkungen quittierten.

Ich fragte meine Sitznachbarin, eine elegant gekleidete Frau in den Vierzigern, was los sei. Sie erklärte, dass die Mädchen eine ziemlich derbe Sprache führten, und fragte, was ich in Israel mache. Als ich ihr von meinen Erlebnissen erzählte, wollte sie wissen, ob ich Jude sei. Meine verneinende Antwort schien sie zu ermuntern, sie stellte sich mit Namen vor und sagte, sie sei eine israelische Araberin aus Nazareth. Sie arbeite für eine NGO, Präventivmedizin für jüdische und arabische Frauen. Die Israelis, meinte sie, hielten sie nicht für eine Araberin; sie trage kein Kopftuch, weil sie das nicht möge, doch die jungen Frauen, bei denen das jetzt Mode sei, liessen sich von Männern ebenso wenig diktieren wie ihre westlichen Geschlechtsgenossinnen. «Die arabischen und israelischen Männer hingegen», lachte sie, «haben ziemlich Nachholbedarf, was den Respekt vor Frauen angeht.»

Ich war auf dem Weg zu Boris Zaidman, einem Schriftsteller, der mir den Norden von Galiläa zeigen wollte, eine Gegend, in der verwirklicht sei, wie er meinte, wovon die Palästinenser träumten — ein Land, in dem zwei Nationen friedlich nebeneinander lebten. Mit seinem kahl rasierten Schädel und dem Dreitagebart ist Boris ein typischer Vertreter der Werbebranche, in der er sein Geld verdient. Daneben ist er literarisch tätig; sein Roman «Hemingway and the Dead-Bird Rain» ist vom Hebräischen in mehrere Sprachen übersetzt worden. Boris ist 1963 in Chisinau in der ehemaligen Sowjetunion geboren und 1975 nach Israel ausgewandert. Als ukrainischer Jude hat er ein Gespür dafür, was es heisst, ein Bürger zweiter Klasse zu sein. Nicht viele Israelis haben wie er arabische Freunde, was ihn vor Vorurteilen ebenso schützt wie vor jener ungehemmten Verbrüderung, die nur auf dem Papier stattfindet.

Wir mieteten ein Auto und fuhren ein bisschen herum. Überall in der hügeligen Landschaft gibt es Olivenplantagen, die aussehen wie Naturwäldchen. Doch nicht die Landwirtschaft, sondern die Waffenindustrie hat die Region reich gemacht. Jeder Zweite arbeitet für Unternehmen wie Rafael, die Löhne sind gut im Silicon Valley Israels. Sein Sohn, der in Physik und Mathematik glänzt, sagt Boris, werde hier einen Job suchen. «Mir hat er mit vierzehn ins Gesicht gesagt, dass er nicht so enden wolle wie ich — talentiert, aber ohne Geld.»

In Sakhnin machten wir halt; überall wehten grüne Fähnchen, die Farbe des Islam. Es gibt zwei prächtige Moscheen, gestiftet von Saudiarabien und den Emiraten, ein Shoppingcenter, wo alle einkaufen, und an einer Strassenecke eine überlebensgrosse weisse Freiheitsstatue, eine korpulente Kopie des amerikanischen Originals. Araber haben sie vor Jahren aufgestellt, niemand weiss mehr, weshalb.

Auch hier sind die jüdischen Siedlungen strategisch auf den Hügeln positioniert, während die arabischen in den Tälern entlang der Verkehrswege, der Strassen und Flüsse, liegen. Die Araber, seit Generationen in Galiläa wohnhaft, nennen auch die hiesigen Israelis «Siedler», doch Juden waren schon immer in der Gegend, und viele sind zugezogen, als sie aus Spanien vertrieben und von den Osmanen willkommen geheissen wurden. Flavius Josephus hat hier gegen die Römer gekämpft, und ein anderer Jude, Jesus, fast sein ganzes Leben gelebt, gepredigt und Wunder vollbracht.

«Keinem der Araber käme es in den Sinn, ins Westjordanland zu ziehen, ins künftige Palästina», sagt Boris. Sie würden alles verlieren, was sie als Bürger Israels hätten, Altersvorsorge, Krankenversicherung, die guten Jobs, meint er. Arabische Israelis dürfen nicht in die Armee und nicht in der Militärindustrie arbeiten. Manche würden gerne, um vollwertige Bürger zu werden, und wenn es heisse, die Araber hätten nur Rechte und keine Pflichten, sei das nicht fair, sagt Boris. «Doch zu Palästina haben sie ein gespaltenes Verhältnis — verbal üben sie ideologische Solidarität, wollen aber nichts damit zu tun haben.»

Immer wieder durchschneidet das scharfe Geheul von Jagdflugzeugen den Himmel. Auf dem nahen Bergkamm steht ein Wald von Antennen und Satellitenschüsseln. «Da sitzt die Armee», sagt Boris, «dahinter ist der Libanon, die Hizbollah.» Im zweiten Libanonkrieg, 2006, hätten die ortsansässigen Araber nicht opponiert und es verstanden, dass Israel zurückschlug. Im pausenlosen Raketenbeschuss von drüben waren auch arabische Dörfer getroffen worden, es gab viele Verletzte.

Wir sind verabredet mit einem Araber, mit dem Boris sich befreundete, als er von Tel Aviv hierher in ein Dorf zog, um dem Stress der Stadt zu entfliehen. Das Restaurant in Akko, in dem wir uns treffen, gehört dem Schwager von BorisÂ’ Freund, Hamudy Abu Rabia. Er besteht darauf, dass wir das Auto auf seinen privaten Parkplatz stellen, obschon ein kostenloser Parkplatz gleich vor dem Restaurant frei ist. «Das ist Ehrensache für ihn», sagt Boris, während wir einparken. Dann wird aufgetischt, scharfe Varianten von Hummus, Tomaten, Gurken und Fladenbrot.

Adnan Badarna, BorisÂ’ Freund, ist von kräftiger Statur, mit kurzem Bürstenschnitt und modischer Brille. Er ist am 5. 5. 1959 geboren, gleich dreimal die arabische Glückszahl fünf, sagt er und erzählt von seinem Grossvater. Den traf 1967 ein Herzschlag, als er die Kolonne israelischer Panzer erblickte, die dröhnend über die Hauptstrasse von Sakhnin in Richtung Syrien rollte. Er war Pferdezüchter, ein angesehener Mann, der dreiunddreissig Enkel hatte, die Kinder seiner Töchter nicht mitgerechnet, da diese nicht zählen. Adnan, sichtlich stolz, untermalt seinen Bericht mit eleganten Handbewegungen wie ein Dirigent. 1948, als Israel gegründet wurde, war Sakhnin ein Dorf von 1800 Einwohnern, heute sind es 30 000. Der Babyboom, betont Adnan, sei hausgemacht; möglich, meint Boris hernach, dass man sich so gegen die neuen Herrscher behaupten wollte. Adnans Mutter war fünfzehn, als sein Vater sie heiratete.

Unter allen Herrschaften, die Galiläa bisher gehabt habe, sei die israelische die beste, viel besser als das britische Mandat, sagt Adnan. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Sein Vater war der erste Araber, der den Fahrausweis machte und von Pferden auf Lastwagen wechselte, ein Erbe, das Adnan hochhält als Taxifahrer mit zwei Söhnen, die beide Buschauffeure sind. Für den einen hat man das Haus um ein Stockwerk erweitert, als er heiratete; wenn der andere heiratet, kommt noch eines dazu. Araber wohnen nicht in Hochhäusern, sie wollen keine Fremden über dem Kopf, und die Behörden drückten denn auch bei illegalen Anbauten ein Auge zu, was sie bei jüdischen Israelis nicht täten, sagt Boris.

Die israelische Demokratie sei nicht die beste der Welt, aber es sei eine, meint Adnan dann und nennt Frieden, ein gutes Einkommen und Bildungsmöglicheiten für die Kinder das Wichtigste im Leben. An all dem mangle es in den arabischen Nachbarländern, sagt er und schildert, wie er selber die arabische Sitte des «Vor-Glück-in-der-Gegend-Herumschiessens» aufgegeben habe. Es war nach einem Fussballmatch, Sakhnin gewann den Cup, und er feuerte seine Pistole in die Luft vor Freude. Ein arabischer Polizist beschlagnahmte die Waffe, es gab ein Gerichtsverfahren des Staates Israel gegen ihn wegen «grundlosen Schiessens», doch Adnan gewann. «Ich bekam die Pistole zurück, aber ich bin den Behörden dankbar, dass sie mir eine Lektion erteilt haben», sagt er und meint, nun sei er «auf stille Weise glücklich in den eigenen vier Wänden».

Boris und Adnan verstehen sich gut, weil sie auch die Grenzen ihrer Freundschaft respektieren. Adnan ist nicht religiös, doch Boris würde ihm während des Ramadan nie eine Tasse Kaffee anbieten, so wenig wie Adnan ihn an Jom Kippur einladen würde. Jom haScho'a, den Holocaust-Gedenktag, respektieren auch die israelischen Araber, aber den Unabhängigkeitstag feiern sie nicht mit; für sie ist es die «Nakba», die Katastrophe. Doch Adnan ruft Boris jeweils an und beglückwünscht ihn, den Juden, der hier seine Heimat gefunden hat. Boris sagt, er würde mit Adnan nie über Frauen reden, niemals etwas von seinen Liebesgeschichten erzählen; wenn er bei ihm zu Besuch ist, bedient die Gattin, und die beiden Töchter sitzen stumm da und lächeln. Für den Fremden sind arabische und jüdische Israelinnen kaum zu unterscheiden, doch Boris könnte keine Araberin etwa zum Kaffee einladen, und er kennt auch keine Mischehen, trotz einzelnen gemischten Schulen. «Da gibt es gläserne Wände», sagt er.

Die Mehrzahl der Patientinnen in der hiesigen Gynäkologie, weiss Boris, sind arabische Mädchen, die sich das Jungfernhäutchen rekonstruieren lassen aus Angst vor den Folgen der verletzten Familienehre. Er stört sich an solcher kultureller Rückständigkeit, sieht aber auch, was die eigene Kultur infrage stellt. Die Philippininnen, die mit einem Fünfjahresvisum einreisen und Behinderte und Betagte betreuen, finden bei Arabern keine Arbeit; man pflegt die Eltern zu Hause, bis sie sterben, und was die jüdischen Israelis und die Westler mit den ihren machen, hält man für Barbarei.

Im Kibbuz bei Sakhnin
Was die Sachfragen betrifft, ist der Nahostkonflikt nicht kompliziert.
Komplex macht ihn erst die Seelenlage zweier Völker.

Ich übernachtete in einem Kibbuz unweit von Sakhnin. Der Blick vom Zimmer in die stille Landschaft hätte friedvoller nicht sein können. Zwei kleine Kätzchen balgten sich mit mir um das Frühstück, und ich versuchte meine Eindrücke zu ordnen, die nicht minder lebhaft und widersprüchlich waren.

Araber und Juden, heisst es, sind eine Familie, beide Kinder Abrahams, von gleicher Vitalität, gleichem Witz und, so will es das Schicksal, mit dem Anspruch auf das gleiche Land. Israel ist eine Demokratie auch für arabische Bürger; sie sind in der Minderheit, geniessen aber weit mehr Rechte als Minderheiten in arabischen Ländern, ja mehr als in manchen demokratischen. Doch Israel ist keine Demokratie für die zweieinhalb Millionen Araber im Westjordanland. Bilder tauchten auf in meinem Kopf von achtzehnjährigen Russinnen und Äthiopierinnen, uniformiert, geschminkt und Kaugummi kauend, die an den Checkpoints mit der teilnahmslosen Selbstverständlichkeit von Machthabern sechzigjährige Palästinenser schikanieren.

Die wenigsten Israelis, die ich traf, kennen Araber näher, und das Westjordanland betreten sie nicht, es sei denn, sie seien im Militärdienst. Amos Elon, der Schriftsteller, der intellektuell erschöpft von der Aussichtslosigkeit des Konflikts 2009 im italienischen Exil starb, sprach schon vor über vierzig Jahren von der «moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern unserer Unabhängigkeit, die mit ihrem Leben, ihrem Eigentum und ihrer Zukunft für die Pogrome in der Ukraine und die Gaskammern der Nazis bezahlt haben». Die besetzten Gebiete nannte er «Detonatoren», die früher oder später eine Explosion auslösen würden. Sein Kollege David Grossman sagt, 1967 habe man die Chance verspielt, den Staat dauerhaft zu machen, und sei als Volk, das so viel gelitten habe, süchtig geworden nach dem Gefühl, für einmal die Herren zu sein. Allfällige Schuldgefühle wurden gemildert von den Gewaltakten der Palästinenser, und die Wende von 1967 wurde legitimiert mit der von 2000, als die zweite Intifada den Optimismus von Oslo endgültig begrub. Deren Ziel, die Vernichtung möglichst vieler Juden, musste Erinnerungen wecken, die unauslöschlich sind.

Was die Sachfragen betrifft, ist der Nahostkonflikt nicht kompliziert. Doch sie zu verstehen, heisst nicht, den Konflikt zu verstehen. Komplex macht ihn erst die Psychologie, die Seelenlage zweier Völker, die in ihren je eigenen Traumata gefangen sind. Im Wesentlichen sind es drei Fragen, worin sich die Parteien sachlich nie annähern konnten: das Recht auf Rückkehr von gegen fünf Millionen Flüchtlingen nach Israel, die Teilung seiner Hauptstadt Jerusalem und die Anerkennung des Landes als «jüdischer Staat». In der ersten Frage ist für alle jüdischen Israelis kein Nachgeben möglich, wollen sie nicht zur Minderheit werden, in der zweiten für die meisten nicht, während in der dritten selbst unter Juden Unklarheit herrscht, was sie eigentlich bedeutet.

Ich hatte meine Gesprächspartner gefragt, was sie unter «jüdischem Staat» verstehen und ob sie an dieser Definition ihrer Heimat festhalten wollen. Shlomo Sand, der Historiker, der mit seinem Bestseller «The Invention of the Jewish People» 2008 für Furore sorgte und nun an der Fortsetzung «The Invention of the Land of Israel» arbeitet, hält das nicht nur für einen Anachronismus, sondern für rassistisch. In seinem Büro an der Tel Aviv University, im Beisein einer üppigen ukrainischen Studentin mit Dauerlächeln und tiefem Ausschnitt, gefiel er sich in der Rolle des Provokateurs, der als Jude sagen darf, was andere zu Antisemiten stempeln würde. Die Zionisten seien es gewesen, die den «Mythos des jüdischen Volkes» geschaffen hätten, so wie erst die Kolonialisten die Palästinenser zu einem Volk machten. Er selber betrachte sich nicht als Juden, sondern als Israeli, meinte Sand, und den «jüdischen Staat» halte er für undemokratisch, weil er nach dieser Definition Woody Allen mehr gehöre als den arabischen Israelis, die Hebräisch sprechen.

Kein Historiker, hatte Benny Morris wegwerfend gemeint, nehme Shlomo Sand ernst. Die Juden hielten sich selber für ein Volk, wie das auch Hitler tat, den es nicht kümmerte, ob sie in die Synagoge gingen oder nicht. Morris möchte an der Definition festhalten, weil sie besagt, dass man sich selber regiert und Nicht-Juden eine Minderheit sind; wie jedes Volk, meint er, sollen auch die Juden einen Staat haben, die Araber hätten zweiundzwanzig.

De facto ist der jüdische Staat Israel multiethnisch, ein Fünftel der Bevölkerung sind Araber mit israelischem Pass. Mischehen haben paradoxe Folgen, ist doch der Sohn einer Jüdin und eines Muslims zugleich Jude und Muslim, der Sohn einer Muslimin und eines Juden aber weder das eine noch das andere. Auch daran ist ersichtlich, dass die Frage, wer Jude ist, nicht so klar ist wie die, wer Franzose, Russe oder Schweizer ist. Israel bleibt ein Sonderfall, weil sich historische, religiöse und kulturelle Komponenten in der Definition des Judentums je nach Standpunkt des Definierenden unterschiedlich mischen. Bei einem Volk, das zweitausend Jahre über die Erde versprengt war, wäre es verwunderlich, wäre es nicht so. Hillel Cohen, Universitätsdozent in Jerusalem, brachte es mit einem ironischen Lächeln auf den Punkt. «Es gibt keinen Gott», sagte er, «aber er hat uns das Land versprochen.»

Wie wichtig einem die Definition ist, ist auch eine Generationenfrage. Gily Stein, eine gazellenhafte Linguistikstudentin mit dunklem Haar und einem Gesicht wie von Modigliani gemalt, spricht für viele, wenn sie meint, der «jüdische Staat» sei für die Juden dienlich gewesen im Sinne eines politischen Asyls, doch heute, da sie weniger verfolgt seien, sei es Zeit, eine Begriffsbestimmung zu finden, mit der sich alle Bürger identifizieren könnten.

Shalem Center, Jerusalem
Herr Hazony, woher kommt der Hass auf Israel?

Israel ist ein Land, das man mit mehr und mit anderen Fragen verlässt, als man es betreten hat. Die schwierigste ist vielleicht die, warum es so viele und so heftige Emotionen weckt. Im politischen Streit wird der Davidstern rasch zum Hakenkreuz und ein kritischer Jude zum «Enkel Hitlers», und selbst ein so kluger und renommierter Gelehrter wie Zygmunt Bauman vergreift sich im Ton, wenn er das Westjordanland hinter der Sperrmauer mit dem Warschauer Ghetto vergleicht.

Yoram Hazony, ein 47-jähriger Philosoph und politischer Theoretiker, hat eine Antwort auf diese Frage. Es war nicht einfach, Zugang zum Gründer des Jerusalemer Thinktank Shalem Center zu bekommen. Yazony, Absolvent der Princeton University, ist ein distanzierter Mann, ein Büchermensch, bleich und schmächtig, von dem man erstaunt ist, zu hören, dass er neun Kinder hat. In seinem Blog «Jerusalem Letters» hat er kürzlich zwei Essays publiziert, die ein neues Licht darauf werfen, weshalb Israel vor allem in Europa so angegriffen wird wie keine andere Nation.

Hazony spricht mit sanfter Stimme, die seiner Empörung über die Schmähkampagnen wegen angeblicher oder tatsächlicher Menschenrechtsverletzungen umso mehr Nachdruck verleiht. Israel werde als eine Art «Landplage» gesehen, diffamiert, delegitimiert, der Völkergemeinschaft nicht würdig. Doch Antisemitismus, wenn er auch mitspielen möge, sei nicht der Grund dafür, meint er und holt aus zu einer Ideengeschichte des Nationalstaates und seiner Gegner, die bis auf Kant zurückreicht.

Israel ist als Nationalstaat gegründet worden, als Staat des jüdischen Volkes, auch nach Auffassung der internationalen Gemeinschaft. Doch mit der Katastrophe des 20. Jahrhunderts und dem Aufbau der Europäischen Union, die daraus ihre Lehren zog, ist der Nationalstaat in Verruf geraten, und erstmals seit dreihundert Jahren wächst in Europa eine Generation auf, die ihn nicht mehr als Fundament unserer Freiheiten sieht.

Die Lehren, die Israel und Europa aus der Erfahrung von Auschwitz gezogen hätten, argumentiert Hazony, stünden einander diametral gegenüber. Während für Israel die Nation der Juden das Bollwerk ist, das eine Wiederholung des Genozids verhindert, sieht sich die Europäische Union als Garant, der es einer einzelnen Nation verunmöglicht, erneut einen solchen zu begehen. Diese zwei Standpunkte sind unvereinbar. Der europäische sieht die Quelle des Bösen in der Handlungsmacht der Täter, der israelische in der Machtlosigkeit der Opfer. Israel wird so, je nach Perspektive, entweder zum Gegenteil von Auschwitz oder zu Auschwitz selber. «Indem die Juden zu den Waffen griffen, wurden sie nach Ansicht vieler Europäer vom selben Bösen erfasst, das Deutschland dazu gebracht hatte, die Konzentrationslager zu bauen», sagt Hazony.

Der Paradigmenwechsel vom Nationalstaat als dem Garanten der Freiheit zu deren Bedroher ist nach Hazony der wahre Grund für den Hass auf das Land, dem man das Recht zur gewaltsamen Selbstverteidigung abspricht. Den Einwand, ob nicht das von Israel begangene Unrecht die Ursache sei, lässt er nicht gelten. Die Legitimität der Kritik am Mauerbau, an Kommandounternehmen wie dem auf das türkische Schiff, an der gezielten Tötung von Terroristenführern bestreitet Hazony nicht. Doch deren Intensität, die heftigen Gefühle, liessen sich damit nicht erklären, meint er. Zumal sie mit der Behauptung verknüpft würden, der «jüdische Staat» sei ein rassistischer Staat. «Die Abscheu vor Israel ist so gross, dass die Argumente unfair werden, die Konsequenz jedoch nicht ausgesprochen wird», sagt Hazony. «Denn der Unwille, Israel als ‹jüdischen Staat› zu anerkennen, ist ein Angriff auf dessen Existenzrecht, und das sollte einen doch irritieren.»

Er redet von christlichen Nationen wie Grossbritannien, das eine Staatskirche und ein Kreuz in der Flagge hat, von den arabischen Staaten, die von Israel anerkannt sind, ohne dass man deren Verfassung gutheissen würde, von Regimen, über deren Schandtaten man hinwegsehe, weil man sie mit anderen Massstäben misst und für primitiv hält, für eine Art von Kindern, von denen man, im Unterschied zu Israel, nicht zu viel erwarten dürfe. Das sei, doppelt er nach, «unglaublich unfair».

In Europa habe man sich für ein Konzept internationaler Beziehungen entschieden, das der nationalen Unabhängigkeit grosse Opfer abverlangt, sagt er; Israel könne und wolle dieses Opfer nicht bringen. Ob er sich Hoffnungen mache, mit dem drohenden Auseinanderfallen der Europäischen Union werde die Haltung gegenüber Israel verständnisvoller, frage ich ihn. Er bejaht, meint aber, möglich seien auch zwei bedrohliche Szenarien — der weitere Ausbau der EU, der zu einem «aggressiven Internationalismus» führen, oder der Abbau der Gemeinschaft, der in einem «fremdenfeindlichen Faschismus» enden könnte. «Beides wäre nicht gut für Israel, nicht gut für die Juden», sagt Hazony.

Zur Frage, welches Territorium Israel umfassen solle, möchte sich Yoram Hazony nicht äussern; er habe dazu eine private Meinung, sagt er. Man liegt wohl nicht fern in der Annahme, dass sein Wunschland grösser ist, als was die Palästinenser zu akzeptieren bereit sind. «Wenn sie Israel als Nationalstaat der Juden anerkennen, kann man Verhandlungen darüber führen», meint er. «Es gibt gute Argumente, weshalb Israel fünfzig und nicht nur fünfzehn Kilometer breit sein sollte.»

Zurück in Tel Aviv
Wenn man in Israel ist, verschwindet die Welt am Horizont.

Jeden Morgen besorgte ich mir die englische Ausgabe von «Haaretz» und die «Jerusalem Post» am Kiosk um die Ecke meines Hotels. Der Inhaber, ein junger Araber, begrüsste mich schon beim zweiten Mal wie einen Stammkunden. Tage später, als er den höheren Preis der Wochenendausgaben begründete, meinte er gut gelaunt, das sei der einzige Unterschied, stehe doch sowieso jeden Tag dasselbe drin.

Es war nicht sehr übertrieben. In den drei Wochen, die ich im Land verbrachte, verschwand die Welt am Horizont wie die Abendsonne im Mittelmeer. Berichte über das Weltgeschehen reduzierten sich zuverlässig auf die Frage, inwiefern es Israel betreffe und wie bedenklich es sei. So vif und schlagfertig der Tanz auf dem Vulkan die Leute macht, so merkwürdig berührt diese Form von alertem Provinzialismus.

Ein Freund, der lange im Nahen Osten gelebt hatte, erzählte mir einst von seinem beklemmenden Gefühl, die Israelis wie die Palästinenser würden es möglicherweise nicht notieren, wenn eine Atombombe auf Mexico City fiele und zwanzig Millionen Menschen stürben. Das globale Geschehen, meinte er, dezimiere sich in dieser Region auf das Nahostproblem, und er fragte sich, ob das vielleicht mit der Eigenart heiliger Länder oder der Singularität des Holocaust zu tun habe. Die meisten Israelis, die ich darauf ansprach, reagierten etwas trotzig, meinten, nicht alles drehe sich um den Konflikt, man denke nur selten daran, ja eigentlich meist überhaupt nicht.

Doch es ist schwer, ihn zu ignorieren in einem Land, das umzingelt ist. Man kann Israel fast nur per Flugzeug besuchen oder verlassen. Natürlich, auch da gebe es Ausnahmen, entgegnete mir die abenteuerlustige Gily Stein, die trotz Verbot in Ramallah war und unlängst, es war am 11. September, mit arabisch-israelischen Freunden nach Amman reiste zu einem Konzert von MashrouÂ’ Leila, einer Band aus Beirut. Nach Beirut, wohin sie nicht kann, würde sie gerne gehen, auch nach Kairo, sagte sie, und bestätigte unwillentlich, was sie zu dementieren hoffte.

Die Aussichten auf eine friedliche Lösung sind so fern wie seit langem nicht mehr; in erster Linie, weil in Israel ein williger Verhandlungspartner fehlt, in zweiter, weil der Versöhnungsversuch von Fatah und Hamas im Verein mit der Ungewissheit über den Ausgang des arabischen Frühlings auch bei Moderaten Ängste weckt. Die zweite Intifada mit ihrem Blutvergiessen ist noch in frischer Erinnerung wie auch der Abzug aus Gaza, der von der Hamas mit Raketen verdankt wurde. Mangels Alternative halten die meisten Stagnation für das Beste. Gefragt nach einem historischen Beispiel für eine Herrschaft, die, zur Festung ausgebaut, sich in feindlicher Umgebung über längere Zeit behaupten konnte, wusste nur Benny Morris eine Antwort — die Kreuzritter.

Mit dem Schweizer Carlo Strenger, Professor für klinische Psychologie an der Tel Aviv University, plauderte ich beim Kaffee über die Zukunft seiner Wahlheimat Israel. Strenger, der sich vom orthodoxen Judentum, in dem er aufwuchs, gelöst hat und, wie über zwei Drittel seiner israelischen Mitbürger, nicht an Gott glaubt, befasst sich unter anderem mit der Psychodynamik des Nahostkonfliktes. Er schreibt für «Haaretz» den Blog «Strenger than Fiction», bissige Kommentare zu dem, was Israel tun könnte, aber nicht tut. Ein glatzköpfiger Intellektueller mit Motorrad, der ein bisschen dem von ihm verehrten Philosophen Michel Foucault gleicht, spricht Strenger von «Durchhalten» und von seiner Furcht, das «unvorhersehbare Grossereignis», das eine Wende bringen könnte, werde kein gutes sein.

Ich frage ihn, wie wir Europäer uns denn Israel gegenüber verhalten sollten. Wir müssten einsehen, meint er, dass Israel nicht so etwas sei wie Belgien, dürften die Sympathie bei aller Kritik nicht aufgeben und sollten immer wieder sagen, «wenn ihr so weitermacht, macht ihr euren eigenen Traum kaputt».•

 
PETER HAFFNER ist Reporter des «Magazins» und
lebt in Kalifornien.

 

© DAS MAGAZIN - N°6 / 11.2.2012
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